„Naru, der Sternengreif – Eine Weihnachtsgeschichte über Hoffnung und Mut“
- Jenn von Jemke 
- vor 1 Tag
- 4 Min. Lesezeit

Eine Fiktive Geschichte von Jennifer Bristow - 2025 - Wir wünschen allen ein frohe Weihnachtszeit
Der Wind trug den Geruch von Schnee und Frittierfett durch die stillen Gassen von Enkheim. Mayumi zog den Reißverschluss ihrer Jacke bis unters Kinn und sah auf die Uhr. Fast Mitternacht. Hinter ihr war die Schnellrestaurant-Kette längst geschlossen. Ein langer Tag. Pommes, Burger, scharfe Worte. Sie mochte den Job nicht. Er brachte wenig Geld, aber immerhin genug, um die Miete zu zahlen und ihrem Sohn Merlin hin und wieder eine kleine Überraschung zu kaufen. Der Geruch von Frittierfett klebte an ihren Haaren, an der Kleidung, an allem. Doch sie hielt durch. Für Merlin. Mayumi atmete tief ein und lief müde und erschöpft vom langen Arbeitstag den Berg am Neuen Weg hinauf – froh, gleich endlich ihren kleinen Sohn in die Arme schließen zu können, der zu Hause auf sie wartete.
Als sie in ihrer Straße rund um den Königshof ankam, blieb sie vor der Haustür kurz stehen, um Luft zu holen und die Stille zu genießen.
Der Schnee glitzerte im schwachen Licht, und irgendwo schlug eine Kirchturmuhr Mitternacht. Ein Geräusch ließ sie aufhorchen – ein Rascheln, dann ein leises Poltern. Mayumi blieb wie angewurzelt stehen. „Hallo?“ Ihre Stimme hallte zwischen den geschlossenen Buden wider, und im Echo lag ein Hauch von Angst. Keine Antwort. Nur Stille.
Dann – ein Winseln. Leise, gepresst, fast menschlich.
Langsam ging sie um die Ecke, und was sie dort sah, ließ sie den Atem anhalten. Zwischen Tannenzweigen und einer umgestürzten Holzkiste lag ein Wesen, das sie nur aus alten Sagen kannte. Ein Körper wie ein Löwe, der Kopf eines Adlers, schimmerndes, silbrig-weißes Fell. Die Flügel – riesig, majestätisch – glänzten im Mondlicht, jede Feder fein wie Glas.
In den goldenen Augen lag etwas, das sie mitten ins Herz traf: Schmerz – und Vertrauen.
„Oh mein Gott … du bist …“ Mayumi blinzelte, rieb sich die Augen, trat einen Schritt zurück. „Oh mein Gott … du bist … du bist ja ein Greif!“ Ihre Stimme zitterte. „Wie kann das sein?

Greifen existieren doch nur in Mythen!“
Das Wesen hob den Kopf, schwach, aber stolz. Ein Flügel war verletzt, die Federn an der Spitze bluteten – das Blut schimmerte wie flüssiges Licht.
„Du kannst hier nicht bleiben“, flüsterte Mayumi. „Wenn dich jemand sieht, wirst du gejagt.“ Sie zog ihre Jacke aus und legte sie über das magische Tier.
„Ich nenne dich … Naru.“
Der Greif blinzelte, und für einen Moment war sie sicher, dass er sie verstand. Sie führte ihn vorsichtig die Marktstraße hinauf, vorbei an geschlossenen Restaurants und den kleinen, dunklen Fenstern der Häuser, in Richtung Ried. Der Asphalt ging in matschige Feldwege über, und der Boden war vom Regen des Vortags aufgeweicht. Ihre Stiefel sanken in den nassen, erdigen Wiesenmorast. Der Geruch von feuchtem Gras und Erde mischte sich mit der kalten Winterluft.
Der Nebel hing über dem Ried, ein unsichtbarer, dichter Schleier, der die Nacht verschluckte. Merkwürdige Schatten bewegten sich zwischen den kahlen Bäumen, und irgendwo knackte Holz. Mayumi fröstelte, doch Naru trat näher, als wollte er sie schützen. Sein Fell leuchtete schwach, wie ein Stern in Nebel gehüllt.
Dann Ein Zischen, ein Schrei – als hätte der Nebel selbst eine Stimme….
Dunkle Gestalten lösten sich aus der Ferne, wirbelten Blätter auf, die wie kleine Schatten durch die Luft tanzten. Mayumi stolperte rückwärts, doch Naru breitete seine Flügel aus.

Ein einziger Schlag, und funkelnde Schneeflocken stoben durch die Luft. Ein goldener Lichtbogen durchzuckte die Dunkelheit, und alles wurde still. Mayumi sank zitternd auf die Knie. Naru beugte sich über sie, berührte sanft ihre Stirn mit seinem Schnabel. Für einen Moment fühlte sie nichts als Frieden.
Erst als der Wind wieder leise durch die kahlen Äste wehte, kam sie zu sich. Da wusste sie, was zu tun war. Sie führte Naru weiter – bis zu einer alten, halb verfallenen Scheune an der Hohen Straße. Das Dach war undicht, aber es bot Schutz. Mayumi sammelte etwas Stroh, formte daraus einen kleinen, trockenen Haufen, auf dem sich der Greif niederlassen konnte. „Hier bist du sicher“, flüsterte sie, und blieb eine Weile neben ihm sitzen.
Als sie am nächsten Morgen zurückkam, war die Scheune leer. Nur eine einzige silberne Feder lag im Stroh. Mayumi kniete sich hin, strich mit den Fingern über die Stelle, wo Naru gelegen hatte. Der Boden war warm, als hätte dort noch immer jemand gelegen.
In den nächsten Tagen konnte sie kaum an etwas anderes denken. Bei der Arbeit fiel ihr Blick immer wieder zum Himmel, und nachts lauschte sie auf jedes Geräusch, das vom Ried herüberwehte. Einmal glaubte sie sogar, ein leises Schwingen in der Ferne zu hören.
Zwei Tage später herrschte am Königshof hektisches Treiben. Der Weihnachtsmarkt sollte in knapp einer Stunde eröffnet werden, doch ein Problem brachte alles zum Stillstand.
„Der Stromgenerator ist überlastet – zu viele Schuko-Stecker in einem Anschluss“,
rief jemand. Mayumi drehte sich um – Minato, der IT-Techniker aus Enkheim, kniete vor dem großen grauen Verteilerkasten. „Wenn das Ding durchbrennt, sitzt ganz Bergen-Enkheim im Dunkeln“, murmelte er.
Mayumi spürte, wie die Menschen nervös wurden. Kein Licht, kein Markt, kein Weihnachten.
Plötzlich flackerte etwas am Himmel. Ein Schatten glitt lautlos über die Menge, dann noch einer – golden schimmernd, warm. Kinder zeigten nach oben. Über dem Königshof,

zwischen Kirche und Buden, schwebte Naru. Seine Flügel glühten im Dämmerlicht, sein silbernes Fell funkelte wie Schnee im Sonnenaufgang. Er stieß einen tiefen, vibrierenden Ton aus, der durch die Luft bebte. Kleine, goldglänzende Lichtkugeln rieselten vom Himmel herab, fielen auf die Buden, auf die Kirche, auf die Menschen. Kein Generator – nur pures Leuchten erhellte die in der Dämmerung stehende Kirche.
Mayumi stand neben Minato, das Herz klopfend. „Das … das ist unmöglich“, flüsterte er. „Vielleicht nicht alles, was wir nicht verstehen, ist unmöglich“, antwortete sie leise.
Naru stieg höher, bis er nur noch wie ein Stern am Himmel glühte. Der Markt erstrahlte in goldenem Glanz, und der Schnee fiel in dichten, tanzenden Flocken. Später fand Merlin auf dem Platz etwas im Schnee: eine schimmernde Feder. Er hob sie auf, lächelte und sagte: „Mama, guck – Naru war da.“ Mayumi nickte, nahm die Feder an sich und sah zum Himmel. Über der Kirche Bergen glühte ein einzelner, heller Stern.
Und für einen Moment war alles leicht. Der Wind roch nach Zucker, Schnee und Hoffnung. Und Mayumi wusste, dass nichts verloren war – nicht, solange jemand noch an Hoffnung und Liebe glaubte.
Manchmal kommt das Wunder nicht, um uns zu verändern – sondern um uns daran zu erinnern, wer wir sind.


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